Published in Lebenshaus.
Nur wenige wissen, dass Martin Luther King, Jr. einmal eine Genehmigung zum Tragen einer versteckten Handfeuerwaffe beantragt hat.
Der Juraprofessor Adam Winkler von der UCLA (University of California Los Angeles) schreibt 2011 in seinem Buch Gunfight1, dass der Geistliche, nachdem 1956 eine Bombe auf sein Haus geworfen worden war, in Alabama die Genehmigung zum Tragen einer versteckten Handfeuerwaffe beantragt habe. Die Ortspolizei verabscheute es, Afroamerikanern dergleichen Genehmigungen zu erteilen, erklärte ihn für ungeeignet und lehnte Kings Antrag ab. Schließlich musste King seine Waffen zu Hause lassen.
Die Lehre aus diesem Ereignis ist keineswegs die, die in den letzten Jahren einige NRA2-Mitglieder geäußert haben3, nämlich dass man sich King als bewaffneten Republikaner vorstellen solle. (Dieses Portrait vernachlässigt neben vielem andern die Erkenntnis, wie Republikaner den Zorn Konservativer über die Fortschritte der Bürgerrechte benutzten4, um den Süden, in dem die Dixiekraten 5 großen Einfluss hatten, auf ihre Seite zu ziehen). Im Gegenteil: Die Tatsache, dass King 1956 eine Genehmigung zum Tragen einer Waffe beantragt hat, gerade als er auf die nationale Bühne katapultiert worden war, veranschaulicht die tiefgehende Wandlung, die er im Laufe seines öffentlichen Auftretens durchgemacht hat.
Zwar gehörte zu dieser Wandlung auch eine Bekehrung zu moralischer Gewaltfreiheit und persönlichem Pazifismus, das ist jedoch durchaus nicht alles. Für die, die daran interessiert sind zu erfahren, auf welche Weise Gewaltfreiheit als nützliche Strategie dienen kann, dem sozialen Wandel zum Durchbruch zu verhelfen, ist Folgendes wichtiger: Zu Kings Entwicklung gehörte auch eine zwar zögerliche, aber letzten Endes überzeugte Annahme direkter Aktion. Diese war breit, konfrontativ und unbewaffnet. Die dementsprechende Haltung beeinflusste den Kampf um Freiheit in Amerika in der Folge sehr stark.
Eine persönliche Bekehrung
Der Montgomery-Busboykott von 1956, die Kampagne, die Kings nationales Ansehen begründete, war nicht wie eine Kampagne des gewaltfreien Widerstandes in der Art Gandhis im Voraus geplant. Damals hatte King keine klare Vorstellung von den strategischen Prinzipien, die hinter der Kampagne standen. Der Busboykott kam spontan in der Folge von Rosa Parks Verhaftung Ende 1955 zustande und war von einer ähnlichen Aktion in Baton Rouge 1953 angeregt worden. (Interessanterweise war der Einsatz in Montgomery anfänglich in seinen Forderungen ziemlich bescheiden: Nur bescheidene Änderungen der Sitzplatzordnung in nach Rassen getrennten Bussen wurden gefordert.)
King war ein Neuankömmling in Montgomery und er wurde unerwartet in die Leitung der Bewegung gedrängt. Ein Grund dafür war, dass er nicht zu einer der etablierten Parteien der stadtbekannten Schwarzen gehörte. Er nahm seine Rolle mit ihren Belastungen nur zögernd an. Schon bald bekam er Telefonanrufe, in denen ihn anonyme Anrufer warnten: “Hör zu, Nigger, wir werden dir alles, was wir wollen, wegnehmen. Noch vor Anfang nächster Woche wird es dir leid tun, dass du nach Montgomery gekommen bist.” Nachdem dergleichen Drohungen schließlich darin gegipfelt hatten, dass im Februar 1956 eine Bombe auf Kings Haus geworfen worden war, wurden vor seinem Haus bewaffnete Wachmänner aufgestellt, die weitere Mordversuche verhindern sollten.
Diese Reaktion zeigt, dass King immer noch zögerte, Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit anzunehmen. In seinen Ansprachen vor Massenversammlungen propagierte King die christliche Forderung: “Liebet eure Feinde!” Im College hatte er Thoreau gelesen und er beschrieb den Busboykott als einen “Akt von massenhafter Nichtzusammenarbeit”. Er rief immer wieder zum “passiven Widerstand” auf. King gebrauchte jedoch nicht den Ausdruck “Gewaltfreiheit” und er gab zu, dass er nur wenig über Gandhi und die Kampagnen der indischen Anführer der Befreiungsbewegung wusste.
Kings Biograf Taylor Branch6 bemerkt, dass Besucher, die aus anderen Staaten kamen und sich in den Prinzipien der unbewaffneten direkten Aktion auskannten, berichtet hätten, King und andere Aktivisten in Montgomery seien “in Gewaltfreiheit unmittelbar begabt und unverfälscht”. Unter diesen Besuchern waren Rev. Glenn Smiley7 vom Versöhnungsbund und Bayard Rustin8 von der War Resisters League.
Sowohl Rustin als auch Smiley bemerkten die Feuerwaffen, die es in Kings Haushalt gab, und sagten, er solle sie abschaffen. Der Historiker David Garrow beschreibt einen berüchtigten Zwischenfall: Rustin besuchte gemeinsam mit dem Reporter Bill Worthy Kings Pfarrhaus und der Journalist setzte sich fast auf eine Pistole. “Pass auf, Bill, auf dem Stuhl liegt eine Pistole”, warnte der erschrockene Rustin. Er und King blieben am Abend lange auf und diskutierten darüber, ob bewaffnete Selbstverteidigung in Kings Haus schließlich zu einer Schädigung der Bewegung führen könnte.
Woran heutige NRA-Mitglieder lieber nicht denken wollen: Das war nicht lange bevor King zu einer Einstellung kam, die Gruppen wie der Versöhnungsbund befürworten. Smiley besuchte Montgomery in den vier Jahren, die King noch blieben, immer wieder und die Haltung und Strategie des Führers der Bürgerrechtsbewegung wurden noch in vielen weiteren Abend- und Nachtgesprächen geformt.
1959 wurde King vom Gandhi National Memorial Fund eingeladen und unternahm eine Pilgerreise nach Indien, um die Prinzipien von satyagraha zu studieren. Schließlich nahm er doch niemals den vollkommenen Pazifismus eines A. J. Muste9 an. Später, während der Jahre der Black Power, unterschied King zwischen Menschen, die Feuerwaffen benutzten, um sich selbst in ihrem Haus zu verteidigen, und der Frage, “ob es taktisch klug ist, eine Waffe bei sich zu tragen, wenn man an einem organisierten Protest teilnimmt.” Aber für sich selbst nahm King Gewaltfreiheit als “Lebensweise” an und er hielt diesen Entschluss unter Bedingungen aufrecht, die viele andere schwankend gemacht hätten.
Als King im September 1962 vor einer Versammlung sprach, sprang der 24-jährige weiße Zweizentner-Mann und Mitglied der amerikanischen Nazipartei Roy James auf die Bühne und schlug den Geistlichen ins Gesicht. King reagierte mit einem Mut, der bei vielen seiner Zuhörer einen lebenslangen Eindruck hinterlassen hat. Der dabei anwesende Erzieher und Aktivist Septima Clark beschreibt die Szene: King ließ die Hände “wie ein neugeborenes Baby” sinken und sprach ruhig zu seinem Angreifer. King bemühte sich nicht, sich zu schützen, auch nicht, als er durch weitere Schläge zurückgestoßen wurde. Nachdem Kings Helfer schließlich den Angreifer weggezogen hatten, sprach King hinter den Kulissen mit dem jungen Mann und sagte ihm, er werde nicht Anzeige gegen ihn erstatten.
Gewaltfreiheit als politische Waffe
Viele, die an Pazifismus glauben, behaupten, dass eine derartige prinzipielle Gewaltfreiheit den Höhepunkt der moralischen Entwicklung eines Menschen darstelle. Sie sagen, dass diejenigen, die unbewaffneten Protest nur als Taktik benutzten – also nicht weil sie diesen als einen ethischen Imperativ annehmen, sondern weil sie entschieden haben, dass es die effektivste Art sei, eine Kampagne für sozialen Wandel voranzutreiben -, eine geringere Form der Gewaltfreiheit praktizierten. Gandhi förderte diese Einstellung, als er behauptete, dass diejenigen, die aus strategischen und nicht aus ethischen Gründen Gewaltfreiheit einsetzten, die “Gewaltfreiheit der Schwachen” anwendeten. King wiederholte das Argument, indem er schrieb: “Gewaltfreiheit im wahrsten Sinn ist keine Strategie, die man einfach darum benutzt, weil sie im Augenblick zweckmäßig ist”, sondern sie ist etwas, “von dem die Menschen aus der bloßen Moralität seines Anspruchs leben.”
Das ist zweifellos richtig, andererseits gilt jedoch: Moralische Gewaltfreiheit ohne die Vision einer Strategie geht ins Leere. Und wenn wir King als Ikone eines individuellen Pazifismus verehren, verkennen wir sein wahres Genie.
Menschen können sich durchaus der Gewaltfreiheit als einem persönlichen Prinzip verschreiben, ohne dass sie jemals an irgendeiner Aktion teilnehmen, bei der sie ihre Überzeugungen in der Öffentlichkeit zeigen würden. Das ist sogar allgemein üblich, da die meisten Menschen die Bequemlichkeiten des Privatlebens der Spannung in einem politischen Konflikt vorziehen. Pazifisten, die ihren Glauben auf die Probe stellen wollen, unternehmen vielleicht als Einzelne Akte des zivilen Ungehorsams, indem sie moralische Zeugenschaft praktizieren, die keine ernsthafte Bedrohung für die, die Unrecht tun, darstellt. Ihre volle Kraft gewinnt die Gewaltfreiheit aber nur, wenn die Grundsätze der unbewaffneten direkten Aktion strategisch eingesetzt und durch Kampagnen umfassender Störung und eines kollektiven Opfers zu wirksamen Waffen der politischen Überzeugungskraft werden.
Martin Luther King nahm strategische Gewaltfreiheit in ihrer härtesten und radikalsten Form an und das führte zu den historischen Konfrontationen in Birmingham und Selma. Wir müssen aber bedenken, dass diese Konfrontationen erst Jahre nach seinem Eintritt ins politische Leben in Montgomery kamen und dass es leicht hätte sein können, dass sie überhaupt nicht stattgefunden hätten.
Der Weg nach Birmingham
In der Folge des erfolgreichen Busboykotts bemühte sich King um Möglichkeiten, das Montgomery-Modell im gesamten Süden zu verbreiten. Er wusste, dass es Strategen gab, die sich in Theorie und Praxis von Konfrontation auf breiter Basis auskannten, er wusste aber auch, dass diese Organisationstradition in der Bürgerrechtsbewegung noch keine Wurzeln gefasst hatte. Anfang 1957 begegnete King dem klugen Studenten James Lawson10, der sich Wissen über unbewaffneten Widerstand aneignete und der einige Jahre in Indien verbracht hatte. Branch berichtet, King habe den jungen Studenten im Aufbaustudium eindringlich gebeten, sein Studium aufzugeben: “Wir brauchen dich jetzt”, habe King gesagt. “Wir haben keine Schwarzen-Führung im Süden, die etwas von Gewaltfreiheit versteht.”
Zwar erkannte King ihre Notwendigkeit an, aber der Gedanke, Kampagnen direkter Aktion mit vielen Teilnehmern zu wagen, war weit außerhalb seines Bezugsrahmens. Er blieb in vielerlei Hinsicht ein widerwillig zu Massenaktionen Bekehrter. Kings Southern Christian Leadership Conference, SCLC, war 1957 gegründet worden und sie sollte ursprünglich ein Zusammenschluss von Geistlichen sein. Sie erklärte sich selbst – so ein Historiker – für den “politischen Arm der Kirche der Schwarzen”. Jedoch schreibt Ella Bakers Biografin Barbara Ransby, die Institution sei nicht gerade wild auf Bürgerrechte gewesen, und “die Mehrheit der schwarzen Geistlichen wollte in den 1950er Jahren lieber einen sichereren, weniger konfrontativen politischen Weg gehen”. Selbst King und seine motiviertere Gruppe “definierten ihre politischen Ziele rundweg innerhalb der achtbaren amerikanischen Hauptströmung und hüteten sich davor, mit Linken in Zusammenhang gebracht zu werden.”
Der kämpferische Rev. Fred Shuttlesworth war von dem SCLC-Programm, das sich in den ersten Jahren mehr mit “blumigen Ansprachen” als mit zivilem Ungehorsam beschäftigte, frustriert und warnte, dass die Führer der Organisation, wenn diese nicht aggressiver werde, “es in nicht allzu ferner Zukunft sehr schwer haben würden, unsere Existenz zu rechtfertigen.”
Der nächste große Durchbruch zum Bürgerrechtsaktivismus kam nicht von den zögernden Geistlichen des SCLC, sondern durch die Imbissbuden-Sit-Ins, die im Frühling 1960 anfingen und durch den ganzen Süden gingen, und dann 1961 durch die Freedom Rides 11. Immer wenn die jungen Aktivisten King dringend baten mitzumachen, hielt sich der ältere Geistliche – er war erst Anfang 30 – zurück. Als King seinen Studenten sagte, er sei im Geiste bei ihnen, schossen sie scharf zurück: “Und wo ist dein Körper?”
Der damalige Führer des Student Nonviolent Coordinating Committee, SNCC, John Lewis berichtet, King habe irritiert reagiert und gesagt, indem er sich auf Jesu Kreuzigung bezogen habe: “Ich denke, ich sollte die Zeit und den Ort für mein Golgatha selbst bestimmen.”
Als Kings SCLC direkt in eine große Kampagne strategischer Gewaltfreiheit verwickelt wurde, wurde die Organisation damit in einen Einsatz hineingezogen, der schon im Entstehen gewesen war. Es war der in Albany, Georgia, der Ende 1961 anfing. Selbst dann setzte sich der SCLC erst ein, als King und sein enger Kollege Ralph Abernathy unerwartet verhaftet worden waren. Leider wurde der Einsatz in Albany von Rivalitäten zwischen verschiedenen Bürgerrechtsgruppen heimgesucht und endete mit einem Misserfolg. Garrow schreibt: Die New York Times habe schließlich “die bemerkenswerte Zurückhaltung der Segregationisten von Albany und die geschickte Behandlung von Rassenprotesten durch die Polizei” gelobt. Eine andere US-Veröffentlichung bemerkte dagegen: “Keine einzige Rassen-Barriere ist abgebaut worden.”
Nichtsdestoweniger überzeugte King der Sinn für das Mögliche, den er in Albany erlebt hatte, zusammen mit der Inspiration durch die Freedom Rides und die Studenten-Sit-Ins davon, dass die Zeit für eine Massenaktion gekommen sei, die, so schreibt Andrew Young, “vorausgesehen, geplant und von Anfang bis Ende koordiniert” sein würde und in der die Prinzipien des gewaltfreien Konflikts angewandt würden. King hatte seine Zeit und seinen Ort gewählt: Birmingham 1963.
Groß genug zum Scheitern, groß genug zum Gewinnen
Kings politisches Genie bestand darin, das institutionelle Gewicht einer großen Bürgerrechtsbewegungs-Organisation für seine Ziele einzuspannen, indem er den Einsatz von Taktiken zivilen Widerstands steigerte. Im Fall Birmingham bedeutete das, viele der Ansätze, die zuvor ausprobiert worden waren – der ökonomische Druck auf Händler während des Montgomery-Busboykotts, die dramatischen Sit-Ins von Nashville, die Füllt-die-Gefängnisse-Strategie von Albany -, mit einem mehrstufigen Angriff, den der Soziologe und Bürgerrechts-Historiker Aldon Morris “eine geplante Übung in Massen-Störung” nannte, zu verbinden.
Bei der Schaffung eines ausgereiften Konflikts, der das Rampenlicht der Nation auf sich ziehen könnte, nahm King große Risiken auf sich. Für eine Organisation der Größe und Herkunft der SCLC wäre es weit einfacher gewesen, sich mehr der Lobbyarbeit und legalen Aktionen der Hauptströmung zuzuwenden – so ähnlich, wie es die NAACP 12 getan hatte. Die SCLC-Organisatoren und ihre Bündnispartner vor Ort schufen jedoch einen dramatischen Zusammenstoß mit den Segregationisten, wobei die normalerweise verborgenen Ungerechtigkeiten des Rassismus öffentlich angeprangert wurden, anstatt den Studentenaktivisten des SNCC zu folgen, die sich für gewaltfreie Konfrontation entschieden hatte.
Der Historiker Michael Kazin schreibt13: Die berüchtigten Szenen in Birmingham, in denen Polizeihunde auf unbewaffnete Demonstranten gehetzt und Wasserwerfer auf junge Demonstranten gerichtet wurden, “überzeugten eine Mehrheit von Weißen zum ersten Mal, dass sie die Sache der Freiheit der Schwarzen unterstützen sollten”. Ähnlich schrieb King später: Beim Beobachten, wie die Demonstranten Bull Connors drohender Polizeiarmee Trotz bot, habe er “zum ersten Mal den Stolz und die Macht der Gewaltfreiheit empfunden”.
Letzten Endes war King ein Gefolgsmann und kein Führer bei der Schaffung einer neuen Tradition strategischer gewaltfreier Aktion in den Vereinigten Staaten. Das anzuerkennen sollte jedoch seine Bedeutung nicht herabsetzen. Denn als er sich schließlich darauf festlegte, einen derartigen gewaltfreien Protests auf breiter Basis anzuführen, über den er seit Jahren gesprochen hatte, führte das zu Kampagnen, die das Gefühl der Öffentlichkeit dafür, welche Maßnahmen notwendig seien, die Bürgerrechte in den Vereinigten Staaten hochzuhalten, tiefgreifend veränderten. Das Birmingham-Modell erwies sich als weithin einflussreich. Der Sieg in dieser Stadt erregte im ganzen Land Aufsehen. In den zweieinhalb Monaten nachdem die Birmingham-Kampagne eine Vereinbarung mit Ladenbesitzern verkündet hatte, die die Aufhebung der Rassentrennung einführen würden, fanden mehr als 750 Bürgerrechts-Proteste in 186 amerikanischen Städten statt, die zu fast 15.000 Verhaftungen führten.
Warum verfolgen angesichts der bewiesenen Macht der Massen-Störung zur Veränderung der politischen Diskussion über ein bestimmtes Thema nicht mehr Organisationen derartige Strategien? Warum benutzen nicht mehr Gruppen kämpferische Gewaltfreiheit, um dringende Herausforderungen wie wirtschaftliche Ungleichheit und globalen Klimawandel anzugehen?
Hier ist ein gewisses Paradox am Werk, eines, dessen Erkenntnis unsere Hochschätzung für Kings Mut vergrößern könnte. Der erfahrene Arbeitsstratege Stephen Lerner behauptete 2011: Für große Organisationen steht schon so viel auf dem Spiel – Beziehungen zu Politikern der Hauptströmung, finanzielle Verpflichtungen gegenüber den Mitgliedern, kollektive Handelsverträge -, dass sie Gerichtsverfahren und politische Rückschläge fürchten, die mit anhaltendem zivilen Ungehorsam einhergehen. Was Lerner über Gewerkschaften schreibt, gilt ebenso für große Umweltorganisationen, Menschenrechtsgruppen und andere Nonprofit-Unternehmen: Sie “sind gerade groß genug – und gerade genug mit den politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen verbunden -, um darin eingeschränkt zu sein, die Art Aktivitäten, die notwendig sind”, kühne Kampagnen gewaltfreien Konflikts zum Erfolg zu bringen, “auszuführen”. Daraus ergibt sich: Viele explosive direkte Aktionen – von den Sit-Ins in Nashville über die Occupy-Aktivitäten bis zur Revolution in Ägypten – werden von zusammengewürfelten, unterfinanzierten Emporkömmlingen durchgeführt. Derartige Ad-hoc-Gruppen riskieren gewagte Kampagnen, weil sie nichts zu verlieren haben. Gewöhnlich fehlen ihnen aber die Mittel, viele Wellen des Protests über eine Reihe von Jahren zu steigern oder auch nur aufrechtzuerhalten. Etablierte Institutionen dagegen haben diese seltene und mächtige Fähigkeit zu bieten.
Wenn jemand Pazifismus nicht nur als persönliche Philosophie annehmen will, sondern seine Laufbahn aufs Spiel setzen und die Zukunft seiner Organisation auf den Glauben an die Macht der Gewaltfreiheit als einer politischen Kraft bauen will, erfordert das eine enorme Entschlossenheit. Martin Luther King brauchte jahrelange Überlegungen und Aufschub dafür, diesen Schritt zu unternehmen. Als er ihn jedoch schließlich tat, führte das zu einem ausschlaggebenden Ergebnis: King wurde von einem, der immer wieder mit der Saga der Bürgerrechte in Berührung gekommen war – einem widerstrebenden Protagonisten in der Schlacht gegen die amerikanische Apartheid – zu einem, der die Geschichte gestaltet hat.
Mark Engler ist leitender Analyst bei Foreign Policy In Focus, Redaktionsmitglied von Dissent und ein Beiträge verfassender Herausgeber von Yes! Magazine. Paul Engler ist Gründungsdirektor des Center for the Working Poor in Los Angeles. Sie schreiben ein Buch über die Entwicklung politischer Gewaltfreiheit. Erreichbar sind sie über die Website https://democracyuprising.com/
Photo credit: Abernathy Family / Wikimedia Commons. Translated by Ingrid von Heiseler.
Quelle: Waging Nonviolence . Originalartikel: When Martin Luther King gave up his guns .